Asylrecht und Seenotrettung außer Kraft gesetzt

Kaum ist die neue rechtsradikale Regierung im Amt, schon geht es los: Flüchtlingen, die von NGO-Schiffen aus Seenot gerettet wurden, wird verwehrt, an Land zu gehen. Ein klarer Verstoß gegen das Asylrecht und die Gesetze zur Seenotrettung, nach denen ihnen schnellstmöglich der Zugang zum nächsten sicheren Hafen gewährt werden muss. Stattdessen treiben die traumatisierten und oft kranken und körperlich versehrten Männer, Frauen und Kinder wochenlang auf hoher See. Diesmal traf es Schiffe von deutschen, norwegischen und französischen Organisationen, die in den vergangenen Wochen insgesamt etwa 1.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet haben.

Es ist wie vor fünf Jahren, als Lega und 5Sterne gemeinsam regierten und Salvini Innenminister war. Auch er sah seine Hauptaufgabe darin, Menschen auf der Flucht vor Krieg, Armut und Konzentrationslagern zu drangsalieren, ebenso wie die humanitären Organisationen, die eine eigentlich europäische Aufgabe übernehmen.

Deswegen wollte er auch wieder unbedingt Innenminister werden. Das klappte zwar nicht, weil er noch unter Anklage just wegen seiner rechtswidrigen Sperrung der Häfen steht, aber er ist immerhin Minister für Verkehr und Infrastrukturen geworden, wozu auch die Zuständigkeit für den Schiffsverkehr gehört. Und er konnte als Nachfolger für sein eigenes damaliges Amt einen Mann seines Vertrauens platzieren.

Innenminister Piantedosi, Diener seines Herren

Der neue Innenminister Piantedosi war 2018 Kabinettschef von Salvini. Schon damals exekutierte er dessen „Politik der Hafensperrungen“ und formulierte die berüchtigten „Sicherheitsdekrete“, die Migranten und Flüchtlinge in die völlige Rechtslosigkeit führten. Auch in seinem neuen Amt bleibt er der Diener seines Herren. Mit akribischem Eifer liefert er für die rechtswidrigen Maßnahmen gegen NGO’s und Flüchtlinge immer neue Begründungen.

Erst behauptete er, es sei Aufgabe der Staaten, unter deren Flagge die Rettungsschiffe fahren – in diesem Fall Deutschland, Frankreich und Norwegen –, einen Hafen zur Verfügung zu stellen und die Flüchtlinge aufzunehmen. Nachdem die Europäische Kommission klargestellt hatte, das geltende Kriterium bei der Aufnahme von Flüchtlingen und für die Asylverfahren sei die Frage, in welchem Territorium sie sich befinden (zu dem auch die nationalen Gewässer gehören), und habe mit der Flagge, unter der die Schiffe fahren, nichts zu tun, hatte Piantedosi seine nächste Idee: Dann sollten eben die Besatzungen der NGO-Schiffe die Asylanträge entgegennehmen, womit die Staaten, unter deren Flagge sie fahren, automatisch dafür zuständig wären. Ein absurder Vorschlag, den die Besatzungen umgehend zurückwiesen: Sie seien keine Asylbehörde, sondern für die Rettung von Menschenleben zuständig.

Nach dem Scheitern dieser Versuche suchte der Innenminister nach anderen Wegen der Rechtsbeugung und erfand den neuen Tatbestand der „selektiven Anlandung“: Den Schiffen wird erlaubt, italienische Häfen anzusteuern, aber an Land dürfen nicht alle Geretteten, sondern nur diejenigen, die „hilfsbedürftig“ sind, das heißt Kranke, Schwangere und Minderjährige. Mit der „Restladung“ – so die freundliche Bezeichnung des Ministers, als ob es sich um Kartoffelsäcke oder Baumaterialien handelt – müssten die Schiffe dann wieder die italienischen Territorialgewässer verlassen.

Selektive Anlandung“ und „Restladungen“

Entsandte des Gesundheitsministeriums wurden mit der „Selektion“ beauftragt und erlaubten einigen Flüchtlingen, von Bord zu gehen. Die anderen – d. h. die „Restladung“ – verstanden natürlich nicht, was passierte. Warum dürfen die ans Land und wir nicht? Was wird aus uns? Die Besatzungen berichteten von Szenen der Verzweiflung, einige Flüchtlinge stürzten sich ins Meer, andere verweigerten die Nahrung. Dann lehnten es auch die Kapitäne ab, den Hafen zu verlassen, bevor nicht alle Geretteten von Bord seien, das sei ihre gesetzliche Pflicht. Joachim Ebeling, Kapitän der Humanity 1: „Ich gehorche nur dem Seerecht, die Handlungen der italienischen Regierung sind illegal“. Er sei über das Verhalten der italienischen Regierung schockiert.

Auf der „Humanity 1“

Schließlich konnten Vertreter von Unterstützergruppen und Oppositionspolitiker, die in Catania und Reggio Calabria vor Ort verharrten, erreichen, dass Ärzte und Psychologen des örtlichen Gesundheitsamtes an Bord gingen und den körperlichen und psychischen Zustand der Menschen untersuchten. Ergebnis: Alle seien körperlich und seelisch extrem labil, an Bord grassierten Infektionen, es bestehe die Gefahr von Selbstverletzungen und Suiziden, die Situation sei untragbar. Erst dann erlaubte der Innenminister, dass auch die „Restladungen“ die Schiffe verlassen konnten.

Die Mär „Italien muss alle aufnehmen“

„Die Illegalen kommen alle nach Italien, wir müssen alle aufnehmen“ lautet immer wieder die Begründung der italienischen Rechten für die Zurückweisung von Flüchtlingen, die aus Seenot gerettet wurden. Warum nehmen denn Deutschland und Frankreich keine auf? Diese Mär erzählte bereits Salvini, als er Innenminister war, und Meloni verbreitet sie jetzt wieder.

Die Realität ist eine andere. Nach den Daten der Asylagentur der Europäischen Union/EUAA für 2021 ist Deutschland das europäische Land, das die höchste Anzahl von Geflüchteten aufgenommen hat (191.000, fast ein Drittel der Gesamtzahl). Es folgen Frankreich (121.000) und Spanien (65.000) und erst an vierter Stelle Italien (53.000). Ähnlich war es in den Jahren davor. Inzwischen sind noch die Flüchtlinge aus der Ukraine dazugekommen, die vorwiegend von Polen, Ungarn, Rumänien und wieder Deutschland (mit fast einer Million) aufgenommen wurden.

Überhaupt ist die Beschwörung einer „Invasion“, verursacht durch die Rettungsaktionen der NGO’s, populistische Propaganda, die völlig an den Tatsachen vorbeigeht. Denn die meisten Flüchtlinge kommen nicht übers Mittelmeer, sondern auf anderen Wegen nach Europa – und auch nach Italien. Selbst von den Flüchtlingen, die über die gefährliche Mittelmeerroute kommen, stellen jene, die Europa mit Schiffen humanitärer Organisationen erreichen, nur eine kleine Minderheit dar.

Der Fall „Ocean Viking“ und der Krach mit Frankreich

Deutschland und Frankreich hatten die Behauptung, sie seien für die Aufnahme der Flüchtlinge zuständig, zurückgewiesen und Italien aufgefordert, sich an die international geltenden Gesetze zu halten. Trotz dieser Kritik hatten sie der italienischen Regierung ihre Bereitschaft signalisiert, einige der geretteten Flüchtlinge aufzunehmen, wie schon mehrfach in der Vergangenheit. Die französische Regierung war (zunächst) noch weitergegangen: in einem persönlichen Gespräch mit Meloni am Rande der UN-Klimakonferenz in Ägypten hatte Macron von der Möglichkeit gesprochen, dass das Rettungsschiff Ocean Viking von SOS Mediterranée in einem französischen Hafen anlanden könne. Macrons Angebot kam, nachdem das Schiff mit 230 Flüchtlingen – darunter 57 Kindern – schon über 20 Tage auf See trieb. Der Kapitän hatte wiederholt die französischen Behörden um Hilfe gebeten, da weder Italien noch Malta auf Notrufe reagierten und die gesundheitliche und psychische Situation der Flüchtlinge an Bord immer bedrohlicher wurde.

Meloni und ihr Minister Salvini nutzten sofort die Gelegenheit, um sich öffentlich damit zu brüsten, sie hätten Frankreich zu diesem Entgegenkommen bewegt, und sahen sich in ihrem „harten Kurs“ gegen die Rettungsschiffe bestätigt. Die Ministerpräsidentin ließ eine entsprechende offizielle Note veröffentlichen, Salvini tönte „Der Wind hat sich gedreht!“.

Macron sah darin einen Vertrauensbruch und war empört, als eine Art Helfershelfer der italienischen Regierung bei ihrem Kreuzzug gegen die Rettungsschiffe dargestellt zu werden. Entsprechend scharf war seine Reaktion. Er ließ seinen Innenminister Darmanin erklären, Frankreich habe aus humanitären Gründen – obwohl rechtlich nicht dazu verpflichtet – dem Schiff Ocean Viking den Hafen von Toulon zur Verfügung gestellt, um alle Flüchtlinge zu versorgen und ihnen die Möglichkeit zu geben, Asyl zu beantragen. Gleichzeitig nannte der französische Innenminister das Verhalten der italienischen Regierung „unverständlich, unakzeptabel und inhuman“. Damit würde sich Italien außerhalb der europäischen Solidarität stellen und seinen rechtlichen Verpflichtungen entziehen.

Es blieb nicht bei Worten der Kritik: Darmanin kündigte an, Frankreich erwäge, seine Zusage zurückzuziehen, im Rahmen des europäischen Umverteilungsprogramms 3.500 Flüchtlinge aufzunehmen, die sich bereits auf italienischem Boden befinden, und werde Ähnliches auch anderen Mitgliedstaaten vorschlagen. (Deutschland, das eine weitere Eskalation vermeiden möchte, hat allerdings signalisiert, dass es dem französischen Beispiel nicht folgen werde: Man werde Italien weiterhin unterstützen und „setze darauf, dass dieses seine Verpflichtungen erfüllt“).

Scheingefechte auf Kosten von Schutzbedürftigen

Nach den wochenlang dauernden Schikanen, die Flüchtlinge und Besatzungen ertragen mussten, konnten inzwischen alle, die sich an Bord der blockierten Rettungsschiffe befanden, an Land gehen. So war es auch in den Zeiten, als Salvini Innenminister war: Spätestens vor den Gerichten musste er seine Versuche aufgeben, die Geflüchteten auf den Schiffen als Geißeln zu halten. Um es dann bei der nächsten Gelegenheit erneut zu versuchen.

Meloni setzt Salvinis Scheingefechte auf Kosten jener, die schutzlos und schutzbedürftig sind, fort. Dass sie nicht „nur“ inhuman und illegal, sondern auch völlig untauglich sind, um der Bewältigung der Migrations- und Fluchtbewegungen auch nur einen Schritt näher zu kommen, spielt keine Rolle. Denn wie Salvini hofft sie, davon zumindest innenpolitisch zu profitieren, indem die Wut und Ängste der Bürger gegen die vermeintliche fremde Invasion gelenkt werden. Womit von den Unzulänglichkeiten der Regierung bei der Lösung der realen Problemesteht des Landes abgelenkt wird. Bisher, wie es scheint, mit mäßigem Erfolg: Laut Umfragen meint die Mehrheit, dass die Aktionen gegen die Rettungsschiffe reine (und wirkungslose) Propaganda sind und sich die Regierung lieber um die Sorgen der Bürger über Energiekrise, Inflation und wachsende Armut kümmern sollte.

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