Lettas Manifest für eine Neuordnung Europas

Ein unentbehrliches, aber fragiles Konstrukt: der Druck des Krieges und der Pandemie zwingt geradezu Europa zu einem „definitiven Qualitätssprung“. Mit seinem „Manifest für eine Neuordnung Europas“, das am 11. April in der Tageszeitung „Il Foglio“ erschien, ruft der PD-Generalsekretär Enrico Letta dazu auf, auch auf europäischer Ebene eine „Zeitenwende“ einzuläuten.

„Europa ist unser Schutz“ schreibt er im Vorspann, „denn in einer Welt von Gewalttätigen haben wir das Privileg, in einem politischen Raum zu leben, der auf den Grundwerten von Dialog, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit basiert – statt auf dem Gesetz des Stärkeren“. Darum sei Europa, trotz all seiner Mängel, unentbehrlich. Damit es seine Kraft entfalten und seine historische Mission erfüllen könne, müsse Europa jedoch politisch und institutionell strukturelle Reformen wagen. Er skizziert sieben strategische Bereiche – er nennt sie „sieben Unionen“ -, die es neu zu entwickeln gilt: Außenpolitik, Bildung einer „Europäischen Konföderation“ als Zwischenschritt zur Unionserweiterung, Asyl und Flüchtlinge, Energie und Klima, Verteidigung, soziales Europa, Gesundheit.

Außenpolitik und „Europäische Konföderation“

Die „erste Union“: Bei der Außenpolitik habe Europa mit seiner geschlossenen Antwort auf den russischen Aggressionskrieg gezeigt, dass es in der Lage ist, schnell und einheitlich zu handeln. Die EU müsse nun dafür sorgen, dass diese Geschlossenheit und Schnelligkeit keine Ausnahme bleiben, sondern zur Regel werden, was eine Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips mit Vetorecht voraussetzt.

Die von Letta aufgeführte „zweite Union“ betrifft die Öffnung der EU gegenüber seinen Nachbarn, sowohl in Osteuropa als auch im westlichen Balkan. Die Zugehörigkeit zu Europa sei für viele dieser Länder, wie Ukraine, Moldawien und Georgien, eine Frage „von Leben oder Tod“ und für die EU eine „geopolitische Priorität“. Die jahrzehntelangen Aufnahmeverfahren seien kontraproduktiv und für die Kandidaten frustrierend, daher regt Letta – als Zwischenschritt – die Bildung einer „europäischen Konföderation“ zwischen der EU und den Ländern an, die eine Aufnahme anstreben. Die Konföderation würde das förmliche Aufnahmeverfahren nicht ersetzen, das parallel weiterläuft, aber den Kandidaten schon vorher die Möglichkeit geben, in strategischen Fragen wie Außenpolitik und Klimawandel mitzureden. Vorstellbar seien europäische Gipfeltreffen, bei denen sich am ersten Tag die EU-Mitglieder treffen und am zweiten Tag ein Austausch auf Ebene der Konföderation stattfindet.

Gemeinsame Asylpolitik

Migration sei das „große schwarze Loch Europas“, hier habe die EU in den vergangenen Jahren „epochal versagt“, schreibt Letta. Es spricht von einer frontalen Gegenüberstellung zwischen den Mittelmeerländern, die aufgrund ihrer geographischen Lage meist für die Migranten das erste „Tor zu Europa“ sind, und den mitteleuropäischen Ländern, die sich „gegen jede solidarische Lösung zwischen allen EU-Staaten wenden“ (an dieser Stelle differenziert Letta nicht zwischen Ländern wie Deutschland, das in der EU die höchste Zahl von Migranten und Flüchtlingen aufweist, und osteuropäischen Ländern wie Ungarn und Polen, die eine solche Lösung verweigern – mit Ausnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine).

Der Krieg in der Ukraine habe zu einer völlig veränderten Lage geführt: Polen stehe inzwischen bei der Aufnahme von Flüchtlingen weltweit an zweiter Stelle, und die EU habe schnell und einhellig entschieden, auf geflüchtete Ukrainer die Richtlinien zum temporären Schutz unbürokratisch anzuwenden – zum ersten Mal seit deren Einführung im Jahr 2001.

Ein historischer Schritt, der aber nicht isoliert bleiben dürfe, sondern zu „gemeinsamen strukturellen Antworten“ auf die Herausforderung der globalen Migration führen müsse. Ohne unterschiedliche Behandlung derer, die aus dem Osten, und derer, die über das Mittelmeer kommen.

Die „Energie-Union“

Die „vierte Union“ betrifft die Energiepolitik. Der Ukraine-Krieg hat Maßnahmen gegen die Abhängigkeit der EU vom Import fossiler Brennstoffe auf der politischen Agenda ganz nach oben gerückt. Der Plan „RePowerEu“ (er umfasst abgestimmte Reaktionen auf die steigenden Energiepreise und Maßnahmen, um die Nachfrage nach russischem Gas noch vor Jahresende um zwei Drittel zu verringern, Anm. MH) gehe in die richtige Richtung , „aber es bedarf schon jetzt einer stärkeren Integration bei gemeinsamen Akquisitionen, Lagerungen und Energienetzen und bei koordinierten Investitionsprojekten“.

Priorität sei dabei der gemeinsame Ausbau erneuerbarer Energiequellen, um die strategischen Ziele energetische Nachhaltigkeit und Autonomie zu vereinbaren. Ein solcher Plan könne allerdings nur wirken, wenn er sozial abgefedert wird – in den einzelnen Ländern wie auf gesamteuropäischer Ebene -, um Disparitäten innerhalb der Mitgliedstaaten und auch zwischen ihnen auszugleichen bzw. zu reduzieren.

Europäische Verteidigungspolitik, soziales Europa, Gesundheit

Neben der energetischen müsse die EU auch ihre militärische Sicherheit gewährleisten. Letta erinnert daran, dass die Verteidigungspolitik ursprünglich – mit der Gründung der „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ 1954 – den Ausgangspunkt des europäischen Integrationsprojekts bildete. Dies änderte sich 1957 mit der Gründung der EWG, bei der die wirtschaftliche Zusammenarbeit in den Vordergrund rückte. Dass seitdem die Frage einer gemeinsamen Verteidigung kaum noch von Bedeutung war, sei ein strategischer Fehler, dessen ganzes Ausmaß sich nun bei dem russischen Aggressionskrieg offenbare.

Rein numerisch geben alle 27 Mitgliedsstaaten zusammen für ihr Militär fast vier mal mehr als Russland aus, was sich aber nicht in einer entsprechenden Verteidigungsfähigkeit widerspiegele. Das Bemühen um eine gemeinsame Verteidigungspolitik müsse daher angesichts des Ukraine-Krieges strukturell abgesichert werden. Der erste Schritt zu einer solchen „fünften Union“ könne – wie von Romano Prodi vorgeschlagen – ein Pakt zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien sein, der auf die übrigen EU-Länder eine Sogwirkung entfalten würde.

Europa bedarf aber nicht nur der außenpolitischen Verteidigung: seine Freiheit und Werte werden auch innenpolitisch durch populistische und konservative Kräfte bedroht, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Frage stellen. Um deren Angriffe abzuwehren, seien mit einer abgestimmten Sozialpolitik Gerechtigkeit und gute Lebensbedingungen für alle Bürgerinnen und Bürger der EU sicherzustellen.

Last but not least fordert der PD-Generalsekretär den Aufbau eines Gesundheitssystems (die „siebte Union“), das allen Menschen in Europa gleiche Leistungen und Pflegestandards garantiert und regionale Gefälle überwindet.

Letta fordert Reform des Stabilitätspakts

Die Realisierung der oben skizzierten „sieben Unionen“ sei nur möglich, wenn die bisherige ökonomische Governance der EU überdacht und die unerlässliche Reform des Stabilitätspakts auf den Weg gebracht werde. Dessen Aussetzung nur zu verlängern reiche nicht aus, das könne sogar als Alibi dienen, um die längst überfällige Debatte weiter zu umgehen.

Mit Verweis auf ein Paper, das Spanien und die Niederlanden Anfang April vorlegten, unterstreicht Letta die Notwendigkeit, dass in dieser Frage auch Italien eine führende Rolle übernehmen müsse. Das Ziel müsse sein, aus dem Stabilitäts- einen Nachhaltigkeitspakt werden zu lassen, der „die für die ökologische Transition notwendigen Investitionen möglich macht“. Hierzu müssten – wie von Spanien und den Niederlanden vorgeschlagen – die Mechanismen der Schuldentilgung die Situation in den einzelnen Ländern berücksichtigen, damit ihr Wachstum nicht abgewürgt wird.

Als erste Voraussetzung für das Gelingen solcher Strukturreformen bekräftigt der PD-Chef die Forderung nach Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips mit Vetorecht, das derzeit die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der EU lahmlegt.

Für einen neuen „Europäischen Konvent“

Es sei also an der Zeit, institutionelle Veränderungen – EU-Verträge eingeschlossen – konkret anzugehen. Dazu schlägt Letta die Einberufung eines neuen „Europäischen Konvents“ vor, als „natürliche Fortsetzung“ der noch laufenden Konferenz über die Zukunft Europas, die am 9. Mai endet.

Der Europäische Konvent sei der richtige Ort, um Antworten auf die anstehenden globalen Herausforderungen zu formulieren – von der Verteidigung Europas gegen imperiale Aggressionen bis zur Erarbeitung neuer Wirtschaftsmodelle im Sinne einer „neuen Globalisierung“, welche die soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit an die erste Stelle setzen. Die Vollendung der „sieben Unionen“ sei Teil dieses Prozesses.

Dass der sozialdemokratische Leader in einer Zeit, in der Europa unter dem Druck der gegenwärtigen epochalen Krisen ächzt, ein solches Manifest und ambitionierte Vorschläge wie die Einberufung eines neuen Europäischen Konvents lanciert, kann übermütig erscheinen, ist aber genau richtig. Wann, wenn nicht jetzt?

Die große Frage ist allerdings, ob der Aufruf – in Italien und Europa – überhaupt wahrgenommen wird und Europa die Kraft findet, sich auf einen solchen Prozess einzulassen. Letta, der in Europa gut vernetzt ist, versucht gerade über politische Kontakte, Auftritte in den Medien und Pressekonferenzen mit italienischen und europäischen Journalisten seinem Manifest Gehör zu verschaffen. Ob es ihm in diesen turbulenten Zeiten gelingt, ist leider alles andere als sicher.

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