Naht das Ende des Honigmonds?

Super-Mario ist irritiert. Am 6. Dezember hatte der Nikolaus für den Ministerpräsidenten einen Brief der Gewerkschaftsführer Maurizio Landini (CGIL) und Pierpaolo Bombarderi (UIL) als Überraschungsgeschenk im Gepäck: „Ausrufung eines Generalstreiks für den 16. Dezember 2021“.

Gewerkschaften rufen Generalstreik aus

Der gewerkschaftliche Protest richtet sich gegen das Haushaltspaket, das die Regierung dem Parlament vorgelegt hat und in den kommenden Wochen zur Abstimmung ansteht. „Trotz unserer Anerkennung für die Bemühungen und das Engagement des Ministerpräsidenten“ seien die im Haushaltsgesetz enthaltenen Maßnahmen „nicht geeignet“, jene soziale Gerechtigkeit zu erreichen, die das Land dringend brauche. In allen Bereichen – Fiskus, Renten, Bekämpfung des Prekariats, Entlastungs- und Unterstützungsmaßnahmen für Arbeitnehmer und sozial Benachteiligte – habe die Regierung die Forderungen der Gewerkschaft nicht bzw. nur unzureichend berücksichtigt.

Ein Vorwurf, den Draghi beinahe gekränkt als „überraschend und ungerechtfertigt“ zurückweist. Keine Regierung davor habe für Arbeitnehmer und Geringverdiener mehr getan als die jetzige, heißt im Palazzo Chigi, dem Sitz des Ministerpräsidenten, und man zählt die sozialen Wohltaten auf: von den acht Milliarden Steuerentlastungen gingen sieben zugunsten von Arbeitnehmern und Rentnern, vier Milliarden seien für die Beschäftigungsförderung freigemacht worden und fast drei Milliarden, um die Strompreiserhöhungen aufzufangen. Weiterhin habe die Regierung einen einheitlichen Bonus für Familien mit Kindern eingeführt, die Finanzierung des Bürgereinkommens gesichert und drei und halb Milliarden zusätzlich für das Gesundheitswesen zur Verfügung gestellt.

Das ist schon was, sollte man meinen. Und das scheint auch die Meinung der „gemäßigten“ CISL zu sein, des dritten der drei großen Gewerkschaftsverbände, der sich dem Aufruf zum Generalstreik nicht angeschlossen hat.

Der CGIL und der UIL reicht das hingegen nicht. Insbesondere sind sie erbost, weil der von Draghi persönlich eingebrachte Vorschlag, bereits geplante Steuerkürzungen für Einkommen ab 75.000 Euro ein Jahr lang einzufrieren, um Ressourcen für das Abfedern der Energiepreiserhöhungen bei den niedrigen Einkommen freizumachen, von den rechten Parteien und Renzis Italia Viva (der jetzt immer häufiger mit der Rechten stimmt) gestoppt wurde. „Der Ministerpräsident wurde von Parteien seiner eigenen Koalition brutal in eine Minderheitenposition gebracht. Das ist ein sehr ernstes Problem“, so Landinis Kommentar.

Der Protest ist auch politischer Natur

Die Gründe beider Gewerkschaftsverbände, zu einem so drastischen Kampfinstrument wie einem Generalstreik zu greifen – noch dazu mitten in einer pandemischen Krise –, reichen jedoch über die Kritik an einzelnen Maßnahmen der Regierung hinaus. Sie sind auch grundsätzlicher Natur.

Abschlusskundgebung in Rom

CGIL und UIL beklagen eine zu unverbindliche Einbeziehung im Vorfeld der Regierungsentscheidungen.Sie erkennen an, dass Ministerpräsident Draghi regelmäßig Gespräche mit den Sozialpartnern durchführt, diese hätten aber eher informativen Charakter und dienten lediglich dem Austausch über die jeweiligen Positionen, zu „echten Verhandlungen“ zwischen Regierung und Gewerkschaften sei es nicht gekommen.

Aus Sicht der Gewerkschaften ein verständlicher Einwand, der Regierungschef wird allerdings in diesem Punkt kaum nachgeben und an seinem Kurs eines stetigen Dialogs mit den Sozialpartnern (Gewerkschaften wie Arbeitgeber) festhalten, aber ohne verbindliche Absprachen. Er will sich weiterhin „die Hände frei halten“ für die internen Entscheidungsprozesse, die in seiner heterogenen „Regierung der nationalen Einheit“ ohnehin schwierig genug sind.

Ein weiterer Beweggrund für den Konfliktkurs seitens der beiden Gewerkschaftsverbände dürfte sein, dass sie damit ein „Oppositionsvakuum“ im linken Spektrum kompensieren möchten. Denn bisher wird Opposition nur vom rechtsextremen Lager aus betrieben: offen von Melonis „Fratelli d’ Italia“, gelegentlich – aus dem Inneren der Regierungskoalition – auch von Salvini.

Die größte Partei im linken Spektrum, die PD, ist hingegen die wichtigste Stütze der Draghi-Regierung. Und auch die 5Sterne und LEU tragen – von seltenen kritischen Stimmen abgesehen – im Wesentlichen den Regierungskurs mit.

In einer solchen Konstellation versucht vor allem der größte linke Gewerkschaftsverband CGIL , sozialen Ängsten und Unzufriedenheit eine Stimme zu geben und sich als Anwalt für mehr Arbeitnehmerrechte und soziale Gerechtigkeit ein stärkeres politisches Profil zu geben. Zumal ihr Chef Maurizio Landini schon immer – auch in seiner Zeit als Führer der Metallgewerkschaft FIOM – einen solchen politischen Anspruch verkörpert.

Ein Anspruch, den er selbstbewusst auch am vergangenen Donnerstag, dem Tag des Generalstreiks, auf der Abschlusskundgebung in der römischen Piazza del Popolo bekräftigte: Ja, der Streik sei auch politisch, erklärte er, denn die Gefahr einer demokratischen Krise und eines Bruchs zwischen Zivilgesellschaft und „dem Palast der Politik“ sei real. „Natürlich machen wir – im besten Sinn des Wortes – Politik, denn die Menschen verlangen nach Gerechtigkeit und Teilhabe, finden aber bei ihren gewählten politischen Vertretern kein Gehör“.

PD reagiert verhalten

Kein Wunder, dass vor allem die PD auf den Generalstreik verhalten reagiert. Ihr Generalsekretär Enrico Letta äußerte sich „besorgt über den gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und macht keinen Hehl daraus, dass er für die Entscheidung, in einer so schwierigen Krisenzeit einen Generalstreik durchzuführen, wenig Verständnis hat. Sein Vize Peppe Provenzano und der PD-Arbeitsminister Andrea Orlando – die beide dem linken Parteiflügel zuzurechnen sind – versuchen jedoch, den Dialog vor allem mit Landinis CGIL aufrechtzuerhalten und zu vermitteln.

LEU und 5Sterne äußern einerseits „Verständnis“ für die gewerkschaftlichen Positionen und plädieren ebenfalls für eine Wiederaufnahme des Dialogs, achten aber gleichzeitig darauf, die Regierung, der auch sie angehören, und den Ministerpräsidenten nicht zu bedrängen.

Auf den gut gefüllten Plätzen in Rom, Mailand, Bari, Palermo und Cagliari sind daher keine Vertreter von PD, LEU und 5Sternen anwesend („Ich protestiere nicht gegen die Regierung, die ich mittrage“, so der Fraktionschef von LEU in der Abgeordnetenkammer, Federico Fornaro).

Nach den Angaben von CGIL und UIL gab es eine hohe Streikbeteiligung, bis zu 80% in der Metallindustrie und 60% im Transportbereich seien es gewesen. Ganz anders klingen die Schätzungen des Unternehmerverbands Confindustria (sie spricht von 5%) und der CISL, die dem Aufruf nicht gefolgt war (für sie waren es ca. 12%). Aufgrund der Pandemie waren das Gesundheitswesen und der Schulbereich vom Generalstreik ausgenommen.

Gegenwind für Draghi aus mehreren Richtungen

Ministerpräsident Draghi steht also im Zeitraum weniger Wochen wachsenden Widerständen auf zwei Fronten gegenüber: 1) innerhalb seiner Koalition, wo die Rechte gemeinsam mit Renzi seinen Vorschlag eines „Solidaritätsbeitrags“ der höheren Einkommen zur Entlastung von Geringverdienern kippte und 2) von gewerkschaftlicher Seite, die mit ihrer schärfsten Waffe – dem Generalstreik – dem Haushaltspaket der Regierung ein entschiedenes „Nein“ entgegensetzte.

Und das in einer ohnehin angespannten Situation: wegen der Pandemie, aber auch wegen der wachsenden Nervosität der Parteien angesichts der näher rückenden Wahl des neuen Staatspräsidenten. Der Regierungschef schweigt zwar dazu eisern, weiß aber sehr wohl, dass er in dem Vorspiel zur Wahl eine zentrale Rolle einnimmt. Sollte er sich doch zu einer Kandidatur bereit erklären (zum Beispiel um das Desaster einer Kandidatur des Straftäters Berlusconi zu verhindern), würde es wohl keine der Parteien seiner Regierungskoalition – von rechts, links und der Mitte – wagen, ihm die Zustimmung zu verweigern. Zurzeit aber bedrängen sie ihn, wenn auch indirekt, im Amt zu bleiben. Aus Angst, bei vorgezogenen Neuwahlen im Parlament Einfluss zu verlieren, aber auch, weil Draghi – national und international – der wichtigste Garant für eine gewisse Stabilität in Krisenzeiten ist. Er sei in seiner jetzigen Funktion „unverzichtbar“, hört man unisono von allen Parteichefs, die zur Regierungsmehrheit zählen (also alle außer FdI).

Auch die EU und die Nato-Partner setzen darauf, dass er – zumindest bis 2023 – seine „nationale Rettungsmission“ fortführt. Immer wieder erntet Italien Lob vom Ausland, sowohl als Vorbild für die Bekämpfung der Pandemie als auch angesichts der im europäischen Vergleich günstigen Wachstumsdaten. Und die englische Wochenzeitschrift „Economist“ hat soeben Italien – kein Scherz – gar zum „Land des Jahres 2021“ gekürt.

Auch wenn sich in der Heimat die Zeit des Honigmonds langsam dem Ende zu nähern scheint und das Regieren für ihn anstrengender wird: Draghi dürfte sich dieser Verantwortung bewusst sein.

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