Le Pens Sieg erhöht Druck auf Meloni

Die Ergebnisse der Wahlen in Frankreich und der Sieg der radikalen Rechten von Le Pen und Bardella sind ein politisches Erdbeben, deren seismische Wellen auch Italien erreichen. Auch wenn es bei den entscheidenden Stichwahlen am 7. Juli gelingen sollte, zu verhindern, dass die Rechtsextremen die absolute Mehrheit erlangen, wird die politische Umwälzung in Frankreich über dessen Grenzen hinaus Auswirkungen haben.

Giorgia Meloni, die Chefin der italienischen Rechtsregierung und der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia, die im europäischen Parlament der Gruppe der rechtsnationalen „Konservativen und Reformer“ angehört, steht Le Pen politisch nah – man könnte annehmen, dass sie sich über den Sieg ihrer französischen Gleichgesinnten uneingeschränkt freut. In Wahrheit dürfte sie dabei jedoch gemischte Gefühle haben, denn das Geschehen in Frankreich macht ihre Stellung in Europa und auch im Inneren nicht einfacher, sondern schwieriger.

Polarisierung erschwert Melonis Taktik der „zwei Gesichter“

Hauptgrund dafür ist, dass sich durch den Sieg des Rassemblement National die politische Polarisierung sowohl in den einzelnen Ländern als auch auf europäischer Ebene zugespitzt hat. Für Melonis Taktik „der zwei Gesichter“ – das scheinbar pragmatisch-konziliante auf europäischer Ebene und das autoritär-illiberale im Inneren – bleibt in der jetzt entstandenen Lage wenig Raum. Der Druck auf sie wächst, sich klar auf der einen oder der anderen Seite zu positionieren. Er wächst übrigens nicht nur in Europa, sondern auch innerhalb ihrer Rechtskoalition, in der Tajani (Forza Italia) für eine kompromissbereite Haltung gegenüber der EU plädiert, während Salvini, von Le Pens Sieg beflügelt, mit voller Wucht Europa und seine Institutionen angreift (die Nominierung der die EU-Spitzenposten durch den Europäischen Rat nennt er „einen Staatsstreich“).

Zwar kann Meloni darauf setzen, dass die europäische Achse von EVP, Sozialisten und Liberalen, die vor einer Woche in Brüssel den Personalvorschlag eingebracht hat, ohne sie einzubeziehen, durch das Wahlergebnis in Frankreich geschwächt ist. Vor allem Macron, einer der Hauptakteure der Entscheidung in Brüssel, ist politisch angeschlagen und muss damit rechnen, die Regierungsmacht mit einer Nationalversammlung unter Führung der Rechtsradikalen zu teilen. Andererseits ist davon auszugehen, dass die Sozialisten der PSE und die Liberalen von Renew, weil sie sich in einer Bedrohungslage fühlen, jetzt erst recht an der „Brandmauer“ gegen Europas Rechtspopulisten – Meloni eingeschlossen – festhalten wollen.

Anders die EVP, die größte Fraktion im EU-Parlament. Sie ist in dieser Frage gespalten: Tajani (Forza Italia) und EVP-Fraktionschef Weber (CSU) möchten die Tür zur „moderateren“ EKR offen halten: der Erste, weil er Vizepremier in Melonis Regierung ist und seine Regierungschefin nicht ausgrenzen will, und der Zweite, weil er selber ein Rechtspopulist ist (man denke nur daran, wie unverdrossen er Berlusconi hofiert hat). Der einflussreiche Vorsitzende der EVP und Polens Ministerpräsident Tusk hingegen, der an der Schnürung des EU-Personalpakets maßgeblich beteiligt war, lehnt eine Öffnung zu Meloni und ihren „Konservativen“ ab, zu denen auch die PIS-Partei seines Erzfeindes (und Vorgängers im Amt) Kaczynski gehört.

Alles in allem ist bei der Entscheidung über die Kandidaturen für die EU-Spitzenposten klar geworden, dass Melonis Rechnung, sich auf europäischer Ebene „die Hände frei zu halten“, nicht aufgegangen ist. Sie hatte, trotz des respektablen Ergebnisses ihrer Partei bei der Europa-Wahl, numerisch keine Chance, die ihr politisch näher stehende EVP mit eigenen Personalvorschlägen auf ihre Seite zu ziehen. Und noch weniger war sie in der Lage, ihr während des EU-Wahlkampfs beschworenes „europäisches Rechtsbündnis nach italienischem Modell“ durchzusetzen. Vielmehr spielte die italienische Ministerpräsidentin bei den Entscheidungsprozessen am Ende keine Rolle, das Trio Tusk/Scholz/Macron bereitete einen gemeinsamen Vorschlag vor und brachte ihn durch: Von der Leyen (EVP) als Kommissionspräsidentin, Antonio Costa (PSE) für den Ratsvorsitz und Kaja Kallas (Liberale) als Außenbeauftragte. Meloni blieb isoliert und entschied sich dafür, sich bei Von der Leyen zu enthalten und zu Costa und Kallas „Nein“ zu sagen.

Isolierung in Europa vermeiden oder rechtsradikale Welle reiten?

Sie war über ihren Flop sichtlich zerknirscht und begründete ihre Entscheidung in einer auf X veröffentlichten Erklärung so: „Der Vorschlag von Europäischer Volkspartei, Sozialisten und Liberalen für die neuen europäischen Spitzenposten ist falsch, in der Methode wie auch in der Sache. Ich habe entschieden, ihn nicht zu unterstützen, aus Respekt gegenüber den Bürgern und ihren Willensbekundungen bei der Wahl. Wir arbeiten weiter, um Italien endlich das Gewicht zu verschaffen, das ihm in Europa zusteht.“

Ihre Begründung lautet also, die Einigung zwischen EVP, PSE und Liberalen stelle eine Missachtung des Wählerwillens vor. Ein haltloser Vorwurf, der leugnet, dass die gemeinsame Entscheidung einer Koalition aus drei Parteien legitim ist, die sich sehr wohl auf die Mehrheit der in Europa abgegebenen Wählerstimmen stützt und die, wie es die EU-Regeln verlangen, mit einer qualifizierten Mehrheit von 15 Mitgliedstaaten getroffen wurde, die mindestens 65% der europäischen Bevölkerung repräsentieren.

Fraglich ist auch, wie es Meloni gelingen kann, „Italien in Europa das Gewicht zu verschaffen, das ihm zusteht “. Denn hier steckt sie durch ihre Doppelrolle – als Italiens Ministerpräsidentin und als Leaderin der rechtsnationalen europäischen „Konservativen und Reformer“ – in einem Dilemma. Soll bzw. will sie nun anstreben, mit Von der Leyen „intern“ über die Vergabe wichtiger EU-Posten an Italien zu verhandeln (eine Vizepräsidentschaft und/oder Kommissare für strategische Bereiche) und ihr dafür – inoffiziell, versteht sich –, die Stimmen ihrer Partei bei der entscheidenden Abstimmung im EU-Parlament am 18. Juli anbieten? Oder entscheidet sie sich dafür, auf Le Pens rechtsradikaler Welle mitzureiten und dafür eine noch stärkere Isolation Italiens auf europäischer Ebene in Kauf zu nehmen?

Bisher ist noch nicht klar erkennbar, in welche Richtung Melonis Reise geht. Der Eindruck überwiegt, dass sie keinen strategischen Kompass hat und viel davon abhängt, wie sich andere Akteure bewegen.

Wachsende Spannungen innerhalb der Regierungskoalition

Das betrifft nicht zuletzt die Akteure innerhalb der eigenen Regierungskoalition, die unterschiedliche Positionen vertreten. Salvini kämpft um sein politisches Überleben und versucht, durch Le Pens Sieg wieder in die Offensive zu kommen. Er hat sich inzwischen der neu gegründeten Gruppe „Patrioten in Europa“ angeschlossen, in der sich die erklärten EU-Feinde und Putin-Verehrer Orbán, der Tscheche Babis und der österreichische Kickl (FPÖ) zusammengetan haben. Wie es scheint, mit dem Segen Le Pens, die offensichtlich vorhat, sich die „Patrioten“ einzuverleiben – und damit Melonis EKR-Fraktion numerisch im EU-Parlament zu überholen.

Während Salvini jubiliert, wächst in Teilen der Regierung – auch bei einflussreichen Vertretern der Lega, wie Finanzminister Giorgetti – die Sorge, die zunehmende Isolation Italiens in der EU könne sich negativ auf die ohnehin prekäre finanzielle Lage des Landes auswirken. Kurz vor der Sitzung der Europäischen Rates hatte die EU gegen Italien und sechs weitere Länder – auch Frankreich – ein Defizitverfahren wegen Verstoßes gegen die Neuverschuldungsregeln der EU eingeleitet. Nun warnt der Finanzminister, die Spielräume für den kommenden Haushalt seien extrem eng und schon jetzt gebe es Anzeichen dafür, dass die Märkte auf die angespannte Lage mit Skepsis reagieren. Ein Konflikt mit Brüssel würde diese Entwicklung weiter verschärfen. Ähnliche Warnrufe kommen von Forza Italia, dessen Leader Tajani die Ministerpräsidentin dazu bringen möchte, am 18. Juli die Stimmen ihrer Partei für die Wahl Von der Leyens abzugeben – um im Gegenzug für Italien einflussreiche Posten in der EU-Kommission einzuhandeln. In dieser Richtung versucht – im Hintergrund – auch Staatspräsident Mattarella auf die Regierungschefin einzuwirken.

Bisher gibt es aber noch keine Anzeichen dafür, dass Meloni auf einen „europafreundlicheren“ Kurs umschwenken könnte. Dafür müsste sie sich in erster Linie an den Interessen des Landes und ihrer Verantwortung als Regierungschefin orientieren – statt an ihrer Rolle als politische Führerin einer rechtsradikalen Partei bzw. Gruppierung im EU-Parlament. Letzteres scheint Meloni aber zurzeit wichtiger zu sein, denn sie muss befürchten, dass künftig nicht sie, sondern der neu aufgegangene Stern am souveränistischen Himmel, Marine Le Pen, den „Patrioten aller Länder“ den Kurs vorgibt. Unwahrscheinlich, dass sich Meloni in einer solchen Situation dem Vorwurf aussetzen möchte, mit einem „Ja“ ihrer Partei gemeinsam mit Sozialisten, Liberalen und womöglich den Grünen aktiv zur Wahl Von der Leyens beigetragen zu haben. Wahrscheinlicher ist, dass sie bzw. ihre Partei bei einer Enthaltung bleibt.

In der jetzigen polarisierten Situation wird Melonis Spiel „der zwei Gesichter“ zu einem Handicap statt zu einem taktischen Vorteil. Zumal sie auf internationaler Ebene vor einer entscheidenden Frage steht: Bleibt sie, wie bisher – als einzige unter den Souveränisten – im Krieg Russlands gegen die Ukraine auf der Seite der atlantischen Allianz? Oder reiht sie sich, vielleicht schrittweise, in Putins Hilfstruppen ein? Möglich, dass die nahenden Wahlen in den USA die Antwort geben. Es könnte keine gute sein.

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