Offene Fragen nach den Kommunalwahlen

Wie erwartet, hat Mittelinks auch die Bürgermeister-Stichwahlen in 65 Städten und Gemeinden für sich entschieden, mit noch höheren Ergebnissen als prognostiziert. In den Großstädten Rom und Turin erreichten die Kandidaten von Mittelinks Gualtieri (Rom) und Lo Russo (Turin) 60% der Stimmen, mit 20 Punkten Abstand zu ihren Konkurrenten. In Triest wurde zwar der amtierende rechte Bürgermeister bestätigt, jedoch viel knapper als erwartet. Auch in traditionell „rechten“ Städten wie Latina und Varese setzten sich linke Kandidaten durch.

Sieger und Verlierer der Stichwahlen

Kein Wunder also, dass die PD und ihre Verbündeten strahlten und ihren Sieg mit den frisch gewählten Bürgermeistern feierten. Trotz berechtigter Freude gab es allerdings für triumphale Töne wenig Anlass, denn die Wahlbeteiligung, die schon bei der ersten Runde sehr niedrig war (54,7%), sank auf erschreckende 44%. Nach den Wahlanalysen blieben diesmal vor allem die rechten Wähler in den städtischen Randbezirken und die Anhänger der 5Sterne zu Hause. Verärgert, verunsichert, heimatlos. Ein eher bedrohliches Schweigen derjenigen, die bei der nächsten Runde auf nationaler Ebene wahlentscheidend sein können. Und eine gewaltige Herausforderung auch für die Gewinner, soll ihr gutes Ergebnis bei den Kommunalwahlen zu keinem Pyrrhussieg werden.

Auf der Seite der Verlierer – vor allem die Lega und Fratelli d’ Italia sowie Berlusconis Truppe – fliegen hingegen die Fetzen. Eine sichtlich frustrierte Giorgia Meloni räumte in einer Pressekonferenz die Niederlage ein und führte sie, anders als Salvini, nicht auf die schlechte Auswahl der Kandidaten zurück (zumal dies das Eingeständnis bedeutet hätte, dass sie mit der Nominierung des unsäglichen Michetti in Rom einen entscheidenden Fehler gemacht hatte), sondern auf die Zerstrittenheit der Rechtskoalition. „Die drei Parteien (des Rechtsblocks, MH) vertreten unterschiedliche Positionen, das verunsichert die Wähler“.

In der Tat: Ihre eigene Partei Fratelli d’ Italia betreibt Fundamentalopposition, Salvini schießt pausenlos quer, ist aber in der Regierungskoalition, und Forza Italia folgt brav dem Kurs von Ministerpräsident Draghi. An dieser widersprüchlichen Haltung gegenüber der Regierung änderte auch das „Versöhnungstreffen“ nichts, das die drei Bigs wenige Tage nach dem Wahldebakel in Berlusconis römischen Villa veranstalteten, um Einheitswillen zu demonstrieren.

Contes 5-Sternebewegung schließlich, die sich in einem Umbruch mit ungewissem Ausgang befindet und nun eine massive Wahlenthaltung ihrer Anhänger verarbeiten muss, leckt ebenfalls ihre Wunden. Nur dort, wo sie mit den Sozialdemokraten zusammen gegangen war, konnte sie sich vor dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit retten.

Politische Lage in Bewegung

Ob die gegenwärtige Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse zugunsten von Mittelinks von Dauer ist oder sich gar auf nationaler Ebene ausbauen lässt, ist noch völlig offen und hängt von vielen Faktoren ab. Neben der bereits erwähnten Gewinnung „abstinenter Wählern“ in den urbanen Peripherien und unter ehemaligen 5Sterne-Anhängern sind es u. a. die folgenden:

– Es bleibt abzuwarten, ob die Bildung des von PD-Generalsekretär Letta erhofften „neuen Olivenbündnisses“ gelingt (er nennt es auch „campo largo“, breites Feld), das für eine mehrheitsfähige Alternative zu den konservativ-souveränistischen Kräften notwendig wäre;

– es ist noch nicht sicher, dass Draghis Vielparteien-Koalition bis zum Ende der Wahlperiode (2023) hält, oder es davor zu einer Regierungsumbildung oder gar vorgezogenen Neuwahlen kommt, sollte der Regierungschef nun doch Staatspräsident werden;

– der Wettstreit zwischen Salvini und Meloni um die Führung des Rechtsbündnisses spitzt sich zu, sein Ausgang wird sich auf Kurs und Leadership der Lega und der Fratelli d’ Italia auswirken;

– die Auseinandersetzung um eine Änderung des Wahlgesetzes im Sinne eines Mehrheits- oder eines Verhältniswahlrechts nimmt Fahrt auf, ihr Ergebnis wird die Chancen der jeweiligen Parteien bzw. Lager für den Wahlsieg erheblich beeinflussen (sollte es beim Mehrheitswahlrecht bleiben, würde sich der Druck auf die Parteien, noch vor den Wahlen Bündnisse einzugehen, sehr erhöhen, was für Mittelinks wegen des Schwankens der 5SB zum Problem werden könnte);

– wie in Deutschland findet im Februar 2022 auch in Italien die Neuwahl des Staatspräsidenten statt, der aber dort im Hinblick auf die Regierungsbildung über mehr Kompetenzen als sein deutscher Kollege verfügt. Alle Parteien beteuern zwar, über Kandidaturen erst im Januar reden zu wollen, doch der sogenannte „Toto-Quirinale“ (im Quirinal sitzt der Staatspräsident) ist in Wahrheit schon im Gang, wenn auch noch inoffiziell und mit verdeckten Karten.

Suche nach Mattarellas Nachfolge beginnt

All diese Fragen sind miteinander verquickt, ihr Ausgang wird für die politische Weiterentwicklung folgenreich sein. Von besonderer Brisanz ist dabei die Wahl des neuen Staatspräsidenten, nicht nur aufgrund seiner herausragenden institutionellen Rolle, sondern auch, weil die Kür des einen oder anderen Kandidaten (oder der Kandidatin) den Parteien schon im Vorfeld der eigenen Profilierung und der Sondierung künftiger Allianzen dient.

Namen, die im Zusammenhang mit Mattarellas Nachfolge kursieren, gibt es schon mehrere, doch die meisten davon sind nur Nebelkerzen, die man zündet, bevor man sich an die wirklich gemeinten Kandidaten herantastet.

Ein Name ist aber schon jetzt im Spiel, der sozusagen außer Konkurrenz ist und alle Aussichten hätte, eine breite Mehrheit hinter sich zu bringen: Es ist „Super-Mario“, der jetzige Regierungschef. Dass er für das Amt die notwendigen Kompetenz und Autorität mitbringen würde, steht außer Zweifel. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass es dazu kommt, weil der Betroffene weiß, dass sein vorzeitiger Abgang als Regierungschef große politische Turbulenzen auslösen würde.

Denn ihn in seinem Regierungsamt zu ersetzen, wäre äußerst schwierig, da geeignete und konsensfähige Kandidaten hierfür nicht in Sicht sind. In den Medien wurde davon gesprochen, dass sein jetziger Finanzminister Daniele Franco, der ehemalige Chef der Nationalbank und enger Vertraute Draghis, seine Nachfolge antreten könnte. Der aber ist ein „reiner Techniker“, dem die nötige politische Autorität fehlen würde, um das Land in einer so schwierigen Phase zu steuern. Wahrscheinlicher wären vorgezogene Neuwahlen, bei denen die Karten komplett neu gemischt würden. Daran ist aber mittlerweile weder die Linke noch die Rechte interessiert. Auch nicht Giorgia Meloni, die Chefin der postfaschistischen FdI, die noch vor Kurzem auf diese Karte setzte, weil sie hoffte, zur stärksten Kraft und Ministerpräsidentin zu werden. Nach dem Dämpfer der Kommunalwahlen ist ihr und erst recht dem angeschlagenen Salvini, dessen Führungsrolle auch in der Lega in Frage gestellt wird, die Angriffslust vergangen. Während Meloni vom Thema vorgezogene Neuwahlen nicht mehr redet, versichert Salvini, Draghis Regierungskoalition bis zum Ende der Legislaturperiode unterstützen zu wollen.

Wird sie seine Nachfolgerin?

Wenn für Mattarellas Nachfolge die Option Draghi wegfällt, gäbe es noch die Möglichkeit, den hoch angesehenen und beliebten Amtsinhaber selbst von einem zweiten Mandat zu überzeugen. Für die PD wäre dies die beste Lösung, doch der amtierende Staatspräsident hat sie bereits wiederholt von sich gewiesen. Er ist 80 Jahre alt und wird sich eine weitere Amtszeit von sieben Jahren – zu Recht – kaum zumuten wollen (ob man ihn als Kompromiss dazu bewegen kann, wenigstens für die Hälfte der Zeit zur Verfügung zu stehen, ist fraglich, da dies wahrscheinlich auch mit seinem Amtsverständnis kollidieren würde).

Die Option Cartabia

Was bleibt also? Es ist noch zu früh, um in einer so instabilen politischen Landschaft wie der italienischen realistische Szenarien zu entwerfen, aber eine ernstzunehmende Option für die Lösung des „Quirinal-Rebus“ ist schon seit einiger Zeit – im Hintergrund – im Umlauf: Marta Cartabia, die derzeitige Justizministerin und frühere Präsidentin des Verfassungsgerichts. Sie ist parteilos, aber eine Verfassungsrechtlerin von internationalem Rang, die als überzeugte Katholikin der Vereinigung „Comunione e Liberazione“ nahe steht. Obwohl sie konservativ ist, genießt sie parteiübergreifend Ansehen und hätte durchaus Chancen, die notwendige Mehrheit für das höchste Staatsamt zu erreichen – als erste Frau in der Geschichte Italiens.

Die Wahlversammlung für den neuen Staatspräsidenten/die neue Staatspräsidentin besteht aus 1008 Mitgliedern: 629 Abgeordneten, 321 Senatoren und Senatorinnen und jeweils drei Delegierten für jedes Regionalparlament (zwei aus der Mehrheitsfraktion und einer aus der Opposition). In den ersten drei Wahlgängen ist für die Wahl eine Zweidrittel-Mehrheit (673 Stimmen) erforderlich, ab dem vierten Wahlgang reicht die einfache Mehrheit (505 Stimmen). Weder Mittelinks (einschließlich den 5Sternen) noch die Rechte mit ihren 454 Wahlleuten verfügen allein über genügend Stimmen, sie sind entscheidend auf die Kräfte des Zentrums angewiesen, u. a. von Italia Viva (45 Wahlleute) – was deren Chef Renzi vielleicht wieder einmal die Möglichkeit bietet, sich in seiner Lieblingsdisziplin zu üben: das Zünglein an der Waage zu sein.

Anmerkung zum Schluss: Es gibt eine weitere Person, die – so grotesk es klingt – sich noch Hoffnungen macht, Mattarella zu beerben: Es ist ausgerechnet Silvio Berlusconi, der wegen Steuerbetrugs und Bilanzfälschung rechtskräftig verurteilt ist und am 29. September 85 wurde. Dass es tatsächlich zu einer solchen abnormen Entscheidung kommen sollte, ist (hoffentlich) nicht zu erwarten. Es könnte aber sein, dass er von der Rechte als „candidato di bandiera“ nominiert wird, mit dem die Rechte erst mal Flagge zeigt, der aber fallen gelassen wird, wenn es ernst wird. Schon das wäre schlimm genug.

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