Contes verstolperter Alleingang

Mit seinem 209 Milliarden-Anteil ist Italien der größte Profiteur des gigantischen Corona-Wiederaufbaupakets (insgesamt 750 Milliarden), das die EU-Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen in der vergangenen Woche abgesegnet haben (nachdem die Blockade von Ungarn, Polen und Slowenien dank eines – faulen – Kompromisses in Sachen Rechtsstaatlichkeit überwunden war).

Enthusiastisch hatte Ministerpräsident Conte seinerzeit auf die Grundsatzentscheidung über das Auflegen des Recovery Funds „Next Generation EU“ reagiert. Die Verabschiedung des Plans und die Zuweisung des größten Anteils an Italien sei ein Beleg für das Vertrauen in die italienische Regierung. „Wir tragen eine große Verantwortung: Mit 209 Milliarden haben wir die Möglichkeit, Italien neu starten zu lassen und das Land im Kern zu verändern. Nun müssen wir rasch loslegen!“.

Italiens Nationaler Recovery-Plan stockt

Von „rasch loslegen“ war allerdings in den folgenden Monaten nichts zu merken. Im Gegenteil: Italien ist bei der Erarbeitung eines nationalen Recovery-Plans im Vergleich zu anderen europäischen Ländern im Verzug. Nachdem die Regierung relativ früh (Anfang September) Richtlinien („linee guida“) für einen Nationalen Plan („Piano Nazionale di Ripresa e di Resilienza/PNRR“) formuliert hatte, die im Oktober von beiden Parlamentskammern gebilligt wurden, geriet der Prozess ins Stocken.

Die Richtlinien sind, wie nicht anders zu erwarten, allgemein gehalten und skizzieren lediglich grob die strategischen Hauptziele und Handlungsfelder des Wiederaufbauplans, die in sechs sogenannten „missioni“ zusammengefasst werden:

1. Digitalisierung und Innovation in Produktion und öffentlicher Verwaltung

2. “Grüne Revolution“ und ökologischer Wandel

3. Infrastrukturen und Mobilität

4. Bildung, Ausbildung, Forschung und Kultur

5. Soziale, territoriale und genderbezogene Gerechtigkeit

6. Gesundheit

Der Termin zur Vorlage der endgültigen nationalen Pläne ist April 2021, die EU-Kommission hat jedoch die Mitgliedstaaten aufgefordert, ihre vorläufigen Pläne schon früher (ab Oktober 2020) einzureichen. Kurz vor Jahresende zeichnet sich ab, dass der italienische Nationalplan nicht einmal im kommenden Januar reif für ein Verschicken sein wird.

Ein Grund liegt sicherlich in der chronischen Schwerfälligkeit italienischer Verwaltungsstrukturen, die sich schon bei überschaubaren örtlichen Projekten bemerkbar macht, und erst recht, wenn es um ein solches riesiges Vorhaben im europäischen Kontext geht.

Die Stolpersteine

Wesentliche Stolpersteine sind allerdings politischer Natur. Einer hat direkt mit dem Ministerpräsidenten bzw. seiner geschwächten Handlungsfähigkeit zu tun: Conte ist Chef einer schwierigen Koalition, die in erster Linie aus der Not geboren wurde: Für die PD ging es um das Abwenden einer Machtübernahme durch Salvini, für die 5Sterne um die Furcht vor dem politischem Untergang. Nicht genug, um in der gegenwärtigen Krise kraftvoll zu agieren. Der parteilose Regierungschef kann diese Schwäche nicht mehr kompensieren. Es fehlt ihm zunehmend an politischer Rückdeckung: Die Grillini, die ihm den Weg ins Amt öffneten, sehen in ihm kaum noch „einen der Ihren“, und der Versuch Contes, sich der PD anzunähern, kam nicht wirklich voran, besonders nach ihrem guten Ergebnis bei den Regionalwahlen im Herbst, das sie selbstbewusster und gegenüber Contes Führungsanspruch kritischer werden ließ.

Renzi mit seiner „Frontfrau“ Bellanova

Als Antwort darauf tendiert der Ministerpräsident zunehmend dazu, sich von den Koalitionspartnern „abzukoppeln“ und seinen eigenen Weg zu gehen, den er mit nur wenigen Vertrauten abstimmt. Was wiederum die Distanz zu den Parteien der Regierungsmehrheit und deren Misstrauen erhöht.

Für das Regierungshandeln eine kontraproduktive Entwicklung, gerade in der gegenwärtigen Krisenzeit. Besonders krass zeigt sich das an dem Streit, der jetzt um den nationalen Recovery-Plan und seine „governance“ entflammt ist.

Nach der langen Pause, die der parlamentarischen Absegnung der PNRR-Richtlinien folgte, überraschte der Ministerpräsident zu Beginn letzter Woche sein Kabinett mit dem Entwurf eines in vier Teilen gegliederten Nationalplans: 1) Ziele, 2) Schwerpunkte von Reformen und Investitionen, 3) Umsetzung und Monitoring und 4) Aufteilung der Ressourcen auf die sechs „Missionen“. Aussagen über konkrete Projekte und Vorhaben enthält die Vorlage nicht.

Der kritischste Punkt betrifft das Monitoring bzw. Management: er sieht die Einrichtung einer „task force“ vor, bestehend aus dem Ministerpräsidenten, dem Finanzminister (Gualtieri, PD) und dem Minister für wirtschaftliche Entwicklung (Patuanelli, 5SB), sowie sechs externen „Missionschefs“ (einer pro „Mission“), die in ihrer Arbeit von 300 „Technikern“ unterstützt werden. Die „Missionschefs“ sollen mit weitgehenden Kompetenzen und Vollmachten ausgestattet werden, wobei unklar ist, in welchem Verhältnis sie zu den jeweils zuständigen Ministerien stehen.

Renzi droht mit Regierungskrise

Der erste, der lautstark Protest erhob, war Matteo Renzi, der Leader von Italia Viva. Die Minister hätten die Vorlage zu „Contes Regierung der Supermanager“ erst in der Nacht zwischen Sonntag und Montag (Tag der Kabinettssitzung) zugestellt bekommen, weder die Parteiführungen noch Fraktionsvorsitzenden seien in die Ausarbeitung einbezogen worden, empört er sich – zu Recht, muss man sagen. Seine Partei werde das nicht hinnehmen und nicht davor zurückschrecken, die Koalition an dieser Frage platzen zu lassen.

Landwirtschaftsministerin Teresa Bellanova, eine enge Vertraute Renzis, legte im Zeitungsinterview heftig nach: Das Vorhaben sei ein Freibrief „zur Entmachtung des Staates und seiner Institutionen“, die zuständigen Minister würden unter Kontrolle von nicht legitimierten Sonderkommissaren gebracht, das Ganze sei „verfassungswidrig“.

Zwar fiel die Kabinettssitzung am Montag aus (wegen eines positiven Covid-Tests von Innenministerin Lamorgese, was sich später als Irrtum erwies), doch der Eklat ist da. In den Medien wird gefragt, ob es Renzi wirklich um die Sache geht oder eher – wieder einmal – um seine Selbstinszenierung. Jedenfalls erinnerte er den Regierungschef öffentlich daran, dass dessen Amt auch von ihm und seiner Italia Viva abhängt. Die Kommentatoren spekulieren weiter, ob Renzi auf mehr Ministerposten (auch für sich) zielt oder gar auf den Sturz Contes und die Bildung einer neuen Regierungsmehrheit, die einen Teil der Rechten einschließt.

Vielleicht spielen all diese Aspekte eine Rolle. Wie man Renzi kennt, stehen bei ihm stets zwei Dinge im Vordergrund: seine Person und taktische Manöver. Eines kann man allerdings ausschließen, nämlich dass er Neuwahlen anstrebt, denn seine Italia Viva dümpelt in aktuellen Umfragen unter 3% und würde bei einer Wahl möglicherweise aus dem Parlament fliegen. Eher dürfte er auf eine Regierungsumbildung (mit oder ohne Conte) setzen.

Jenseits dieser Spekulationen bleibt die Frage, was von einem Plan zu halten ist, der ein milliardenschweres Wiederaufbauprogramm im Wesentlichen in die Hände externer „Missionschefs“ mit unscharfen Kompetenzen legt. Ein in der Form wie in der Sache problematisches Vorgehen, das statt der – von Conte wahrscheinlich erhofften – Beschleunigung und „Verschlankung“ des Umsetzungsprozesses das Gegenteil bewirken könnte: unklare und konfliktträchtige Doppelstrukturen (die Manager mit ihren Experten-Truppen auf der einen Seite, die Ministerien mit ihren Fachleuten auf der anderen), mehr statt weniger Blockaden und nicht zuletzt eine brüskierte und misstrauisch gewordene Regierungsmehrheit, die sich nicht angemessen in den Prozess eingebunden sieht.

Conte rudert zurück

Renzi ist zwar derjenige, der zuerst und am schärfsten Contes Vorschlag eine Abfuhr erteilt hat. Aber auch die übrigen Koalitionspartner (PD, 5SB. LEU) sind über den Fast-Alleingang des Ministerpräsidenten alles andere als glücklich (er hatte sich vorab nur mit Gualtieri und Patuanelli, die der „task force“ angehören sollen, und mit Europa-Minister Amendola, der für die Kontakte nach Brüssel zuständig ist, abgestimmt). Doch anders als Renzi beschwören sie angesichts der Corona-Krise die Notwendigkeit, einen Konsens innerhalb der Regierungskoalition zu finden.

Kritik kommt natürlich auch von der Opposition. Allerdings sendet Salvini (anders als seine Konkurrentin Meloni) unerwartete Signale zur Dialogbereitschaft aus: eine „Einheitsregierung“ (wohl ohne Conte), in der auch die Rechte mitwirkt, als Übergang zu Neuwahlen.

Conte selbst bemühte sich nach seiner Rückkehr vom Europa-Gipfel, die Gemüter zu beruhigen, ohne allerdings eigene Fehler einzuräumen: Es werde zu dem umstrittenen Thema der „governance“ selbstverständlich eine Phase des Austauschs und der Beratungen mit allen Parteien, dem Parlament und den gesellschaftlichen Akteuren geben, versicherte er.

Bei all den Turbulenzen über das Management rückt die eigentliche, inhaltliche Kernfrage, welche Projekte mit den Mitteln des Recovery-Plans realisiert werden sollen, in noch weitere Ferne. Und bei den europäischen Partnern und der Kommission wachsen die Zweifel und die Unruhe, ob Italien als der größte Profiteur des Wiederaufbaupakets in der Lage ist, die gewaltigen Ressourcen zeitgerecht und angemessen zu nutzen. Zumal es dafür bekannt ist, die ihm aus der EU zufließenden Gelder nur in geringem Umfang (30-40%) auszuschöpfen.

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