Eine Wortmeldung mit Gewicht

„Ascoltare #Draghi“ twitterte Paolo Gentiloni, ehemaliger italienischer Ministerpräsident und jetzt EU-Wirtschaftkommissar, nach der Rede von Mario Draghi zur Eröffnung des jährlichen Meetings der Vereinigung „Comunione e Liberazione“, das vor einer Woche in Rimini stattfand. Das italienische „ascoltare“ hat eine doppelte Bedeutung: „zuhören“ und „auf jemanden hören“. Gentiloni dürfte in seiner knappen Botschaft letzteres gemeint haben. Denn der frühere EZB-Vorsitzende ist ein Mann, der selten das Wort ergreift. Wenn er es dennoch tut, kann man sicher sein, dass ihm zugehört wird – aber nicht unbedingt, dass man auf ihn hört.

Draghi in Rimini

In seiner Rede ging Draghi auf die tiefgreifenden Veränderungen durch die Pandemie und die künftigen Herausforderungen ein. Er tat es in grundsätzlicher Weise, ohne auf die Bewertung einzelner politischer Maßnahmen oder Entscheidungen einzugehen. Bemerkenswert ist, dass er – der Wirtschafts- und Finanzfachmann „par excellence“ – sich dabei nicht auf die ökonomischen Aspekte beschränkte, sondern ein noch größeres Gewicht auf Fragen des gesellschaftlichen und europäischen Zusammenhalts, der Wertorientierung und der Bildung legte. „Ich will hier heute keine Vorlesung über Wirtschaftspolitik halten, sondern Ihnen eher eine ethische Botschaft vermitteln“, erklärte er, „damit wir uns den Herausforderungen des Wiederaufbaus stellen und dabei auch gemeinsam die Werte und Ziele definieren, auf denen unsere Gesellschaft und unsere Ökonomie in Italien und in Europa künftig gründen sollen. ‚When facts change, I change my mind. What do you do, Sir?‘ “ fragte er, Keynes zitierend.

Hier die Kernaussagen seiner Rede:

Erste Priorität für Jugend und Bildung

Es gebe – neben vielen anderen strategischen Bereichen eines zukunftsgerichteten Wiederaufbaus wie Ankurbelung von Investitionen und Privatkonsum, Umweltschutz, Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens, Digitalisierung – einen Sektor höchster Priorität, von dem der Erfolg aller anderen abhängt: „die Bildung und überhaupt die Investitionen für die jungen Generationen“.

Das größte Risiko, das die pandemische Krise hervorgebracht habe, sei die „Zerstörung von Humankapital in einer seit dem zweiten Weltkrieg nie dagewesenen Dimension“. Es seien die Jungen, welche die größte Bürde des notwendigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus tragen werden. Gleichzeitig seien sie diejenigen, die in erster Linie die während der Pandemie immens gewachsenen Schulden werden bezahlen müssen. Eine massive Lenkung von Ressourcen in die Vorbereitung junger Generationen auf diese Aufgabe sei daher unerlässlich. Schon in der Vergangenheit hätten die Regierungen immer wieder Ressourcen, die für die Bildung und Förderung von Humankapital dringend notwendig gewesen wären, für kurzfristige und „politisch lohnendere“ Maßnahmen genutzt. Dies sei in der aktuellen Situation nicht mehr hinnehmbar – weder wirtschaftlich noch moralisch.

Gute und schlechte Schulden“

Ohne Aufnahme neuer Schulden sei die aktuelle Krise nicht zu bewältigen, sagte Draghi. Entscheidend sei, ob diese „gut“ oder „schlecht“ sind. Gute Schulden seien diejenigen, die strukturell angelegt sind und einem nachhaltigen Wachstum dienen. Neben der Bildung und Ausbildung gelte dies u. a. für Investitionen in innovative Forschung und in den Ausbau von Infrastrukturen, die für das Gemeinwohl und die Produktion eine Schlüsselfunktion haben.

Würden aber schuldenfinanzierte Ressourcen dazu verwendet, Myriaden von Subventionen und Bonuszahlungen für alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen zu finanzieren, handele sich um schlechte Schulden, die eine gewaltige Hypothek für die Zukunft darstellen.

Es sei zwar notwendig und richtig gewesen, dass die Regierung in Italien – wie in anderen Ländern Europas – zunächst mit massiven Finanzhilfen alles daran gesetzt habe, die dramatischen Folgen der Krise für Arbeitnehmer, Unternehmen und Familien abzufedern und dafür ein Wachsen der Schulden in Kauf zu nehmen. Nun gelte es aber die Gefahr abzuwenden, dass die Politik der Versuchung erliege, solche punktuelle Maßnahmen nach dem Gießkannenprinzip auf Dauer fortzusetzen, weil sie sich davon kurzfristig politischen Konsens verspreche.

Europa stärken und solidarischer machen

Draghi wäre nicht Draghi, wenn er die europäische Dimension nicht in den Mittelpunkt seiner Rede gestellt hätte. Die Vision eines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus auf der Basis gemeinsamer Werte gelte sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene, betonte er. Die Pandemie habe auch Spannungen und Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten verschärft und den europäischen Zusammenhalt auf eine schwere Probe gestellt. Doch insbesondere die Bildung des Fonds „Next Generation EU“ und das Aufnehmen gemeinsamer Schulden seien richtungsweisende Schritte gewesen. Sie könnten einen Prozess einleiten, der zu einem gemeinsamen Haushalt und zu einer Modifizierung europäischer Regeln und Institutionen führt.

Das sei noch ein langer und schwieriger Weg, wie schon die zähen Verhandlungen über den Recovery Fund gezeigt hätten. Europäische Solidarität sei leider nicht selbstverständlich, umso wichtiger sei es, dass sie „durch ein verantwortungsvolles und glaubwürdiges Handeln der Nationalregierungen in ihrer Wirtschaftspolitik legitimiert wird“.

Drei unerlässliche Eigenschaften politischer Leader

Draghi nannte „drei unerlässliche Eigenschaften“, über die politische Verantwortungsträger verfügen müssen: 1) Wissen, dass dazu führt, Entscheidungen aufgrund von Fakten und nicht von Meinungen zu treffen; 2) Mut, der zum Handeln besonders dann notwendig sei, wenn man nicht all dessen Folgen kennt (auch Nichthandeln habe Folgen und befreie nicht von Verantwortung); 3) Demut, zu erkennen, dass ihnen Macht nicht zur willkürlichen Nutzung anvertraut wurde, sondern nur zum Erreichen von Zielen, die der Gesetzgeber ihnen zuweist.

„Transparenz und Beteiligung sind immer wesentlich für die Glaubwürdigkeit von Regierungshandeln, besonders aber in Krisensituationen, in denen der Ermessensspielraum für die Regierenden größer wird“.

Reaktionen

Schon lange – besonders seit seinem Ausscheiden als EZB-Präsident – wird Draghi in den Medien und im politischen Raum als möglicher Kandidat für höchste politische Ämter gehandelt. Als Nachfolger von Staatspräsident Mattarella, dessen Mandat 2022 endet. Oder als Ministerpräsident, sollte Conte mit seiner instabilen Regierungskoalition von PD und 5SB scheitern.

Es überrascht also nicht, dass Draghis Grundsatzrede in Rimini von einigen Kommentatoren als erster Schritt auf die politische Bühne gewertet wurde. Während sich die Politik mit Reaktionen zunächst bedeckt hielt. PD und 5SB, die die Regierungsmehrheit stellen, schienen unsicher zu sein, ob Draghis mahnende Worte nicht in Wahrheit eine gute Portion Kritik an die Arbeit der Regierung – und des amtierenden Ministerpräsidenten – enthielten, die der Opposition Munition liefern könnten. Salvini selbst, der Leader der größten Oppositionspartei, konnte wiederum die starke proeuropäische Ausrichtung von Draghis Rede (gepaart mit der Warnung vor „populistischen Botschaften“) kaum goutiert haben.

Da aber verlegenes Schweigen als Reaktion auf eine solche Rede von „Super-Mario“ kaum ausreicht, überwogen schließlich parteiübergreifend die Zustimmungsbekundungen. Wobei natürlich die Regierungsparteien Draghis Aussagen als Bestätigung ihres Kurses interpretierten, während Salvini im Gegenteil von einer „Ohrfeige für die Conte-Regierung“ sprach.

Ob Draghi selbst politische Ambitionen hegt, ist zweifelhaft. Sein Selbstverständnis und sein Handeln sind die einer Persönlichkeit „super partes“, und es ist schwer vorstellbar, dass er bereit wäre, sich von einer politischen Seite (gar noch von Rechtspopulisten) vereinnahmen zu lassen. „Ich will kein Politiker sein“, hat er mehrmals erklärt. Andererseits tritt er nicht nur als „Experte“ oder, wie die Italiener sagen, als „tecnico“ auf. Seine Aussagen enthalten gewichtige politische Botschaften, wie seine Rede in Rimini zeigte. Sollte also ein breites politisches Spektrum ihn zur Übernahme politischer oder institutioneller Verantwortung auffordern, könnte er es sich noch einmal überlegen. Vielleicht.

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