Das ewige Zaudern in der Migrationsfrage

„Der Entwurf zur Änderung der Sicherheitsdekrete liegt bereits fertig in meiner Schublade, er wird in Kürze dem Kabinett zur Beschlussfassung zugeleitet und noch vor Weihnachten in Kraft treten“, verkündete Innenministerin Lamorgese (parteilos) im November 2019. Doch Weihnachten verstrich und danach noch viele Monate, in denen die Innenministerin immer wieder beteuerte, die Entscheidung stehe kurz bevor – und der Entwurf liegt immer noch in ihrer Schublade.

Nach einem Jahr in Amt sieht sich die Regierungskoalition von PD, 5-Sternebewegung und LEU nicht in der Lage, einen Schlussstrich unter die willkürliche und menschenfeindliche Politik des ehemaligen Innenministers Salvini (Lega) in der Migrations- und Flüchtlingsfrage zu ziehen und einen neuen Kurs einzuschlagen.

Tanz um ein nicht eingelöstes Versprechen

Dabei gehört die Änderung bzw. Abschaffung von Salvinis Dekreten zu den Schwerpunkten der Regierungsvereinbarung von PD, 5Sterne und LEU. PD-Generalsekretär Zingaretti hatte in den Sondierungsgesprächen mit Staatspräsident Mattarella diesen Punkt sogar zu einer „condition sine qua non“ für die Regierungsbildung erklärt. Die Innenministerin hat längst geliefert. Die anderen Ressorts und die Regierungsparteien hätten alle Zeit gehabt, sich mit dem Entwurf zu befassen, um zu einer abgestimmten Vorlage für den Ministerrat und dann das Parlament zu kommen. Warum also geht die Sache nicht weiter?

Innenministerin Luciana Lamorgese

Die erste Antwort trägt den Namen des PD-Koalitionspartners. Viele Abgeordnete der 5-Sternebewegung und, wie Umfragen zeigen, auch die Mehrheit ihrer Wähler befürworten Salvinis rabiaten Kurs gegen Zuwanderer und Flüchtlinge. Überraschend ist das nicht. Das Schüren von fremdenfeindlichen Einstellungen gehört zum rechtspopulistischen Repertoire, denn dadurch lassen sich Unzufriedenheit und Wut auf die Minderheiten lenken und damit Stimmen gewinnen.

Das weiß Salvini und das wissen auch die führenden Vertreter der 5SB. Gefragt, warum er gegen eine Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Sinne eines „jus soli“ sei, antwortete einmal Grillo: „Weil wir andernfalls bei Wahlen einen Stimmenanteil in Höhe einer telefonischen Vorwahlnummer bekämen“. Und es war immer noch Grillo, der in seinem Blog und seinen wirren Tiraden wiederholt Migranten und Flüchtlinge für Kriminalität und – noch lange vor Ausbruch der Corona-Pandemie – für die Verbreitung von ansteckenden Krankheiten verantwortlich machte. Und sein Ziehsohn und jetziger Außenminister Di Maio, der die Rettungsschiffe im Mittelmeer schon mal als „Taxis des Meeres“ diffamierte und dem Regierungsbündnis mit Salvini nachtrauert, will partout an der früheren „Politik der harten Hand“ festhalten.

Die zweite Antwort betrifft die PD selbst. Sie ist – von einigen kritischen Stimmen abgesehen – weit entfernt davon, in der Zuwanderungsfrage konsequent für einen Kurs einzutreten, der sich nach Menschenrechten, internationalen Verpflichtungen und Integration richtet. Und ihre zögerliche und widersprüchliche Haltung hat nicht nur damit zu tun, dass die Grillini innerhalb der Koalition bremsen und mit der Stärke ihrer parlamentarischen Truppen Druck ausüben. Die PD ist selbst in dieser Frage gespalten und auch in ihr fürchten viele, bei den Wählern an Konsens zu verlieren, wenn sie auf der Diskontinuität bestehen, die sie beim Regierungsantritt versprochen haben.

Das zeigt sich an der Zustimmung zur Verlängerung des Libyens-Abkommens (samt Finanzierung der libyschen „Küstenwache“, die die Flüchtlinge gewaltsam zur Rückkehr in die Internierungslager zwingt) und an der seit Jahren betriebenen Verschleppung der längst fälligen Reform zur Einführung eines (moderaten) „jus soli“.Und vor allem daran, dass die PD die Abschaffung – oder zumindest substantielle Änderung – der „Sicherheitsdekrete“, die der erste Schritt zu einer Kursänderung gegenüber der Vorgängerregierung sein sollte, immer noch nicht gewagt hat.

Salvinis Dekrete immer noch in Kraft

„Es ist gut, dass wir jetzt (nach der Ermordung von George Floyd in den USA, Anm. MH) die Kundgebungen gegen Rassismus unterstützen, und es ist richtig, dass unsere Abgeordneten im Parlament symbolisch in die Knie gehen. Aber was ist mit den Sicherheitsdekreten? Und was ist mit dem jus soli?“ fragt zu recht Matteo Orfini, der frühere PD-Vorsitzende und scharfe Kritiker des gegenwärtigen Parteikurses in der Zuwanderungspolitik.

Aber er gehört zu einer kleinen Minderheit. Ein Jahr nach dem Antritt der neuen Regierung haben Salvinis Dekrete immer noch Gesetzeskraft. Mit verheerenden Auswirkungen auf die Lage von Migranten und Flüchtlingen und auf die Seenotrettung.

Hier zur Erinnerung die wesentlichen Punkte beider Dekrete:

  • Abschaffung des humanitären Schutzes für Migranten, die nicht zu den politisch Verfolgten gehören, aber besonders schutzbedürftig sind (z. B. Schwangere, Minderjährige, Kranke).
  • Verlängerung der Aufenthaltsdauer in den „Centri di rimpatrio/CDR“ (Abschiebezentren) von 3 auf 6 Monate.
  • Unterbringung nur in zentralen Massenunterkünften; die dezentrale Unterbringung wird abgeschafft, Asylbewerber dürfen nicht mehr an kommunalen Integrationsmaßnahmen – u.a. Sprachkursen – teilnehmen.
  • Geldstrafen bis zu einer Million Euro für NGO-Schiffe, die Flüchtlinge in Seenot retten, nebst Konfiszierung des Schiffes und Haftstrafe für den Kapitän.

Diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass Tausende von Asylsuchenden, die davor an kommunalen Integrationsprogrammen teilnahmen und dezentral untergebracht waren, von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt wurden. Ohne Zugang zu Gesundheitsleistungen, Sprachkursen und Hilfe für ihren Lebensunterhalt. Durch die Verlängerung der Aufenthaltsdauer in überfüllten Massenunterkünften ist die Gefahr einer schnellen Ausbreitung des Corona-Virus gewachsen. Durch Salvinis sogenannte „Sicherheitsdekrete“ hat sich also nicht nur die Lage der Betroffenen dramatisch verschlechtert, sondern auch die Sicherheit in Städten und Kommunen.

Die horrenden Sanktionen gegen die Rettungsschiffe und deren schikanöse Verfolgung – bis hin zur tagelangen Festsetzung von Schiffbrüchigen und Mannschaftsbesatzung ohne Möglichkeit der Anlandung – haben bewirkt, dass viele Schiffe ihre Tätigkeit eingestellt bzw. zurückgefahren haben und die Zahlen der im Mittelmeer Ertrunkenen und rechtswidrigen Zwangsrückführungen nach Libyen in die Höhe geschnellt sind.

Lamorgeses Vorschlag …

Es ist daher migrations- und gesundheitspolitisch unverantwortlich, dass die vom Innenministerium erarbeiteten Modifizierungen der „Sicherheitsdekrete“, die nicht mal besonders radikal sind, immer noch nicht den Weg bis zum Kabinett geschafft haben. Hier die Eckpunkte von Lamorgeses Vorschlag:

  • der humanitäre Schutz wird – partiell – wieder eingeführt für diejenigen, denen „unmenschliche und entwürdigende Behandlung“ im Herkunftsland droht;
  • die Aufenthaltsdauer in den Abschiebezentren wird wieder auf 3 Monate begrenzt;
  • Asylbewerber erhalten wieder Zugang zu den dezentralen Integrationsprogrammen in den Kommunen sowie das Recht, sich in den Anmeldeämtern registrieren zu lassen (und damit u.a. Zugang zu Gesundheitsleistungen und Sprachkursen zu erhalten);
  • die Aufenthaltsgestattung für Asylbewerber kann unter bestimmten Voraussetzungen mit einer Arbeitserlaubnis verbunden werden;
  • die „Maxi-Geldstrafen“ für NGO-Rettungsschiffe werden abgeschafft, allerdings werden im Fall einer „Verletzung des Navigationskodex“ Sanktionen von 10.000 bis 50.000 € vorgesehen. Ein solcher Fall tritt zum Beispiel auf, wenn ein Schiff, das in Seenot geratene Menschen an Bord hat, die territorialen Gewässer eines Staates betritt, ohne dessen zuständige Koordinierungszentrum informiert zu haben (was bei den Rettungsaktionen bisher kaum vorkam).


… wird noch einmal aufgeschoben


Vor ein paar Tagen hieß es nun endlich, die Regierungskoalition hätte über Lamorgeses Gesetzesentwurf eine Einigung erzielt, die Unterzeichnung stehe unmittelbar bevor. Inzwischen wurde die Behandlung des Entwurfs im Ministerrat auf September verschoben. Vertreter der 5Sterne erklärten dazu, die 5SB hätte die PD von der Verschiebung überzeugt, „weil vor dem Sommer schon zu viele Gesetzesvorhaben auf der Agenda stehen“. Eine etwas dünne Begründung. Von größerem Gewicht wird gewesen sein, dass am 20./21. September Regionalwahlen in Venetien, Ligurien, Toskana, Marken, Kampanien und Apulien stattfinden,. Es darf vermutet werden, dass die Beschlussfassung im Kabinett erst danach erfolgen wird – wenn überhaupt.

Die PD begründet ihre „Zurückhaltung“ in Sache Zuwanderung oft damit, man wolle Salvini keine Steilvorlage für seine plumpe und beinah obsessive Propaganda bieten. Nur: Ignorieren lässt sich das Thema nicht und Zaudern ist die denkbar schlechteste Reaktion darauf, denn damit lässt man Salvini gerade freie Bahn für seine rassistische Hetze. Notwendig sind differenzierte Antworten auf die Herausforderung von Migration und Flücht: legale und kontrollierbare Wege für Arbeitsmigranten, humanitäre Korridore und Asyl für Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, konsequente und strukturell angelegte Integration der Zugewanderten und Kooperation mit den Herkunftsländern, um mittel- und langfristig die Ursachen für Auswanderung und Flucht zu reduzieren. Sicher ein komplexer und langer Weg – aber alternativlos für jede demokratische politische Kraft, die diesen Namen verdient.

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