Der steinerne Gast

In einem Interview mit dem „Corriere della sera“ im Dezember 2022 – ein paar Monaten nach der verlorenen Vertrauensabstimmung und seinem Rücktritt als Ministerpräsident – antwortete Mario Draghi auf die Frage, was er jetzt mache und was er noch vorhabe: „Faccio il nonno (Ich mache den Opa) und genieße das Recht, selbst zu entscheiden, was ich tue. Auch deswegen habe ich klar gemacht, dass ich an politischen oder institutionellen Funktionen nicht interessiert bin, weder in Italien noch im Ausland“.

Was politische oder institutionelle Ämter angeht, hat er sich (bisher) daran gehalten, doch nur „nonno“ ist er nicht lange geblieben: Ende 2023, etwa ein Jahr nach dem Interview, erteilte ihm die EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen den Auftrag, einen „Bericht über die Stärkung der Wettbewerbstätigkeit Europas“ zu verfassen. „Draghi ist einer der größten Wirtschaftsdenker auf europäischer Ebene“, begründete die Präsidentin ihre Wahl.

Inzwischen mehren sich Medienberichte, er könne auch zu ihrem größten Konkurrenten um das Amt werden, für das sie sich ein zweites Mal bewirbt. Fast gleichzeitig mit Draghis Beauftragung durch Von der Leyen hatte Frankreichs Präsident Macron bereits – wenn auch „informell“ – seinen Namen lanciert (wir berichteten darüber im Beitrag „Turbulenzen vor den EU-Wahlen“ vom 5. 4.). Der ehemalige EZB-Chef hüllte sich damals noch in Schweigen.

Draghis Rede über die Zukunft der EU

Was seine Absichten zu einer möglichen Kandidatur angeht, schweigt er weiterhin. Er nimmt jedoch inzwischen öffentlich Stellung zu strategischen Fragen, die die Zukunft Europas betreffen. Besonders sein Auftritt am 16. 4. in La Hulpe, wo eine von der belgischen Präsidentschaft ausgerichtete Europäische Konferenz über Sozialrechte stattfand, ließ aufhorchen. Hier sprach Draghi zum Stand seines Berichts über die Wettbewerbsfähigkeit der EU, nutzte aber dabei die Gelegenheit zu einer programmatischen Rede. „In der EU ist ein radikaler Wandel notwendig. Die Welt hat sich verändert, doch unsere Regeln sind noch für eine Welt gemacht, wie sie vor der Covid-Pandemie, vor dem Ukraine-Krieg und vor der Nahost-Krise war“ mahnte er.

Europa könne mit dem gegenwärtigen Flickenteppich an unterschiedlichen Regelungen gegenüber den Herausforderungen von Großmächten wie USA und China nicht bestehen. Notwendig seien eine globale europäische Strategie und eine stärkere Integration auf allen Ebenen. Und auch wenn er den Fokus seiner Rede auf die europäische Wirtschaftspolitik legte, ging er weit darüber hinaus. Genauso wichtig wie ein einheitlicher Kapitalmarkt und eine Bankenunion seien angesichts der veränderten geopolitischen Lage eine gemeinsame Verteidigungspolitik und Mehrheitsentscheidungen ohne Vetorecht, um europäische Handlungsfähigkeit zu erlangen.

Auch wenn die Option einer Kandidatur Draghis bisher von keiner Partei und keinem Mitgliedsstaat direkt angesprochen wird: Sie schwebt im Raum. Hinter den offiziellen und potentiellen Kandidaten – Von der Leyen für die EVP, Schmit für die Sozialdemokraten, die Präsidentin des EU-Parlaments Metsola und Vertreter anderer Fraktionen – steht, wie der steinerne Gast im „Don Giovanni“, der ehemalige EZB-Chef.

Debatte über „Option Draghi“ nimmt Fahrt auf

Das Thema wird hauptsächlich in Italien heiß debattiert, sowohl in den Medien als auch im politischen Umfeld. Parteiübergreifend werden erst einmal Draghis überragendes Profil, seine Erfahrung und seine Autorität gewürdigt. Auch FdI-Vertreter, die Meloni nah stehen, äußerten sich grundsätzlich lobend (Senatspräsident La Russa: „Draghi ist für die Übernahme jegliches Amtes qualifiziert“), blieben aber in Sache Kandidatur vage.

Das entspricht der Direktive, die von der Chefin kommt. Meloni möchte nicht vorpreschen und erst einmal abwarten, wie sich die Lage entwickelt. Sie wiederholt immer wieder, dass über Ämter und Funktionen erst nach den Europa-Wahlen im Juni entschieden wird. Das ist zwar formal richtig, aber auch sie weiß, dass die Karten vorher gemischt werden. Seitdem klar ist, dass Von der Leyens Chancen sinken, richtet sich Melonis Blick stärker auf die „Option Draghi“. Hier steht sie vor einem Dilemma: Einerseits vertritt Draghi mit seinem Plädoyer für eine weitere europäische Einigung im Widerspruch zu ihren souveränistischen Grundüberzeugungen. Andererseits ist es für sie, die Ministerpräsidentin Italiens, nicht leicht, sich ausgerechnet gegen einen italienischen Kandidaten dieses Formats zu stellen (jetzt verkündet sogar ihr Busenfreund Orbán „Draghi gefällt mir, er ist tüchtig“). Zumal sie sich von ihm auch ein Entgegenkommen bei Problemen erhoffen könnte, die ihr gegenwärtig auf den Fingern brennen: eine Fristverlängerung für den Nationalen Recoveryplan, eine Rücksichtnahme auf die desolate Lage der italienischen Finanzen.

Besonders „delikat“ ist die Lage für Forza Italia, die als Mitglied der EVP offiziell deren Spitzenkandidatin Von der Leyen unterstützt. Aber auch dort wackelt die Zustimmung zur Kandidatur der gegenwärtigen Kommissionspräsidentin. FI-Chef Tajani, der schon Präsident des EU-Parlaments war und zur EVP enge Kontakte hat, äußerte sich vorsichtig vieldeutig: „Die EVP hat auf ihrem Kongress entschieden, den Namen von Ursula von der Leyen vorzuschlagen. Aber laut EU-Verträgen gibt es noch keine Kandidatur. Es ist noch zu früh, um einzuschätzen, wie die Sache endet“. Nach begeisterter Unterstützung für Von der Leyen klingt es jedenfalls nicht.

Doch in der Rechten gibt es jemanden, der gegen Draghi zu Felde zieht. Matteo Salvini, der Chef der Lega und Vizepremier, reagiert auf Draghis Rede mit der Veröffentlichung von Passagen aus seinem Buch „Controvento“ („Gegen den Wind“), in denen er Entscheidungen von Draghi in seiner Zeit als Ministerpräsident scharf kritisiert. Er greift an, weil er fürchtet, durch eine solche Kandidatur noch mehr isoliert zu werden (umso mehr, da einflussreiche Lega-Vertreter wie der Gouverneur der Region Venetien Zaia und der mächtige Finanzminister Giorgetti diese befürworten).

Chancen, aber auch Hindernisse

Außerhalb Italiens scheint die Debatte um die „Karte Draghi“ noch nicht richtig angekommen zu sein. In den deutschen Medien wird kaum darüber berichtet. Erst vor drei Tagen fand sich eine Meldung im „RedaktionsNetzwerkDeutschland“, die von einigen Zeitungen übernommen wurde, über „Bestrebungen, den ehemaligen EZB-Chef und Ex-Premier Italiens nach der Europawahl zum Nachfolger von Ursula von der Leyen an die Spitze der EU-Kommission zu wählen“. Die angesehene „Neue Züricher Zeitung“ schreibt, Draghis Vortrag habe in Italien „Spekulationen befeuert, wonach der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank nach den Europawahlen vom kommenden Juni an die Spitze der EU-Kommission gewählt werden könnte“.

Auch die europäischen Politiker halten sich mit Kommentaren und Stellungnahmen zurück. Das gilt für Macron, der als erster Draghis Namen in diesem Zusammenhang inoffiziell genannt hatte, und erst recht für den deutschen Bundeskanzler, dessen Partei als Teil der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament offiziell die Kandidatur des luxenburgischen Schmit unterstützt.

Tatsächlich gibt es zahlreiche Hindernisse, auf die eine Kandidatur des ehemaligen EZB-Chefs – wenn er denn selbst bereit ist, anzutreten, stoßen würde. Ungeachtet der auch international weit verbreiteten Anerkennung von Draghis Qualifikationen und Autorität sprechen vor allem folgende Faktoren gegen seine Kandidatur an die Spitze der EU: Er gehört keiner Partei an und es wäre das erste Mal in der Geschichte der EU, dass ein „Techniker“ – und nicht ein/e Politiker/in – gewählt wird. Damit stellt sich auch die Frage, welche politische Kraft ihn nach der Europa-Wahl überhaupt als Kandidaten nominieren könnte. Nach Lage der Dinge käme die EVP in Frage, die voraussichtlich wieder stärkste Fraktion im EU-Parlament wird. Dafür muss sie allerdings ihre Spitzenkandidatin Von der Leyen fallen lassen. Italienische Kommentatoren meinen, dass der polnische Regierungschef Tusk, der bereits Vorsitzender der EVP und Präsident des Europarates war, der richtige Sponsor für eine so „anomale“ Kandidatur wäre. Begründen könnte er es mit der veränderten geostrategischen Lage und der Notwendigkeit, eine Führung zu haben, welche die Autorität hat, Europas Interessen auch international in Krisenzeiten zu vertreten.

Ursula-Mehrheit“ ohne Ursula?

Klar ist inzwischen, dass nicht nur die „gegnerischen“ politischen Kräfte im EU-Parlament, sondern auch viele in der EVP bezweifeln, dass die aktuelle Kommissionspräsidentin und designierte EVP-Spitzenkandidatin diese Voraussetzungen erfüllt. Es geht dabei nicht nur um einige Affären, die Von der Leyen belasten – von den Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft gegen die Präsidentin (Verdacht auf Unregelmäßigkeiten bei der Beschaffung von Covid-Impfstoffen während der Pandemie) bis zu umstrittenen Personalentscheidungen zugunsten von Parteifreunden. Die Bedenken sind in erster Linie politischer Natur. Es wächst die Skepsis, ob sie die geeignete Person ist, um die Herausforderungen zu bewältigen, von denen Draghi in seiner Rede sprach: von den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten bis zur Perspektive einer von Trump geführten US-Regierung und der wachsenden Macht Chinas.

Entscheidungen über die Spitzenpositionen in der EU können – wie in den Verträgen vorgesehen – erst nach dem Ausgang der Wahl im Juni fallen. Bis dahin ist noch viel Bewegung bei den Positionierungen der politischen Akteure zu erwarten, vor allem hinter den Kulissen. Und ob es am Ende darauf hinausläuft, dass es bei der Wahl des Kommissionspräsidenten zu einer Art „Ursula-Mehrheit ohne Ursula“ kommt, ist offen. Bei den Abwägungen über die Kandidatur wird Draghis Namen ziemlich sicher eine Rolle spielen. Manche Beobachter meinen allerdings, er könnte eher für das Amt des EU-Ratspräsidenten, als Nachfolger für den ausscheidenden Michel, als für den Kommissionsvorsitz in Frage kommen. Eine wichtige Funktion, die aber weniger politische Gestaltungsspielräume als die EU-Kommission bietet. Nicht unbedingt nach Draghis Geschmack, der alles andere als nur ein „Techniker“ ist.

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