Geständnis eines Richters


Vorbemerkung der Redaktion

Zur folgenden Rede des Richters Pasquale Profiti, die wir in Auszügen publizieren, würde es in anderen europäischen Demokratien kaum kommen. Profiti, Vorsitzender der „Associazione Nazionale Magistrati“ der Region Trentino-Südtirol, hielt sie anlässlich der Eröffnung des neuen Justizjahres am 29. 1. 2011. Sie ist Ausdruck des von Berlusconi angeheizten und sich zuspitzenden Konflikts zwischen Exekutive und Justiz in Italien. Profitis „Geständnisse“ beziehen sich auf Angriffe, die B. gegen Richter und Staatsanwälte erhebt („Umstürzler“, „Geistesgestörte“, „rote Roben“, die „das Votum der Wähler missachten“).


„Ich bin ein italienischer Richter und vertrete heute auch viele andere Richter. In meinem und ihrem Namen gestehen wir:

Wir gestehen, tatsächlich Umstürzler zu sein… Denn wir wenden die Regeln unserer Verfassung und unserer Gesetze mit der gleichen Unparteilichkeit und Beharrlichkeit bei illegalen Migranten wie bei den Mächtigen an, bei denjenigen, die am Rande der Gesellschaft leben, wie bei denen, die die Hebel der Finanzen, der Politik und der Information in der Hand haben… Wir sind Umstürzler, denn wir meinen – wie Calamandrei –, dass Verfassung und Verfassungsgericht „Garantien sind, die es dem Einzelnen ermöglichen, sein Recht gegen Rechtsverletzungen durch den Gesetzgeber und die Regierung zu verteidigen“. Das bedeutet es heute, Umstürzler zu sein.

Wir gestehen, dass wir … Geistesgestörte sind. Denn nur solche glauben immer noch an die Dienstleistung Justiz, auch wenn sie nicht wissen, ob ihre Computer noch am nächsten Tag funktionieren, ob die Mitarbeiter, die in Rente gehen, überhaupt ersetzt werden, und obwohl sie sich mit anderen Kollegen kleine Zimmer teilen und ihre Urteile im Urlaub schreiben müssen – und denen trotzdem vorgeworfen wird, sie wollten sich nur wichtig machen…

Wir gestehen, dass wir .. das Votum der italienischen Wähler missachten. Denn auf Grund unseres Eids auf die Verfassung der Republik sind wir – mit Einaudi – der Auffassung, dass Richter dazu verpflichtet sind, von jenen Beschränkungen Gebrauch zu machen, die „das Ziel haben, die gesetzgebende Freiheit und das Handeln der politischen Klasse, welche die Mehrheit gewählt hat, einzugrenzen… Um die Mehrheit vor der Tyrannei derjenigen zu schützen, die vorgeben, in ihrem Namen zu handeln“…

Wir gestehen, dass wir politisch denken und nicht unpolitisch sein wollen. So unpolitisch, wie es angeblich die Mehrheit der faschistischen Richter war, oder die Richter, die zur Geheimloge P2 gehörten, oder die Richter, die für höhere Posten und Pöstchen bereit sind, den Mächtigen und Intriganten zu hofieren und die Salons der höheren Gesellschaft zu frequentieren, oder die Richter, die ihre Funktion missbrauchen, um sich Vergünstigungen und Privilegien zu sichern. Wir sind also politisiert und wollen es auch sein, weil wir das Gesetz mit der notwendigen Beharrlichkeit auch auf Regierende anwenden, und zwar auch auf diejenigen, die uns begünstigen könnten, im Bewusstsein, dass wir unpolitisch wären, wenn wir die herrschenden Klassen und die Machteliten nicht stören, die sich über alle Regeln stellen wollen.

Wir gestehen, für umstürzlerische Absichten sogar zu werben, indem wir in Italien und im Ausland … über unsere Überzeugung sprechen, dass in unserem Land – heute mehr denn je – die von der Verfassung garantierte Autonomie der Justiz unverzichtbar ist, um zu vermeiden, dass Partikularinteressen sich… auf Kosten des Gemeinwohls behaupten. Italien kann sich keine andere Justiz erlauben, wenn im Parlament oder in den Lokalverwaltungen Leute sitzen, die wegen schwerwiegendster Delikte verurteilt sind, und wenn die Justiz auf einer Weise attackiert wird, die in jedem demokratischen Land schlicht unvorstellbar wäre.

Wir gestehen ein für alle mal, dass wir „rote Roben“ sind. Wir sind „rot“, weil – um wieder Piero Calamandrei zu zitieren- „der gerechte Richter leider immer damit rechnen muss, dass er – wenn er nicht einer bestimmten Gruppe dient – beschuldigt wird, der gegnerischen Gruppe zu dienen“. Wir sind rot, ohne genau zu wissen, was das bedeuten soll, denn für uns ist rot vor allem die Farbe des Blutes derjenigen Kollegen, die wegen ihrer Arbeit ermordet wurden…

Schließlich gestehen wir, dass der 29. Januar für uns das Datum ist, an dem wir Emilio Alessandrinis gedenken, Staatsanwalt aus Mailand, der heute vor 32 Jahren von – echten – Umstürzlern ermordet wurde, die als Waffe nicht wie wir die Verfassung, sondern den Revolver benutzen. Es würde mich freuen, Herr Präsident, wenn es am Ende meiner Rede weder Applaus noch andere Rituale gäbe, egal wie förmlich oder spontan oder herzlich sie gemeint sind, sondern dass wir uns schweigend erheben, um dieses Kollegen zu gedenken, der von Terroristen ermordet wurde, damit für uns die Erinnerung an ihn… ein leuchtendes Vorbild bleibt.“

Anmerkungen:

Associazione Nazionale Magistrati/ANM ist der italienische Richterbund. Er hat ca. 8000 Mitglieder und ist mehrheitlich konservativ orientiert; innerhalb der ANM gibt es verschiedene Fraktionen, u.a. Magistratura Democratica (zu Mitte-Links tendierend) und Magistratura Indipendente (zur traditionellen Rechten tendierend).

Piero Calamandrei (1889-1956) war Jurist, Journalist, Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung (1945)

Luigi Einaudi (1874-1961) war Jurist, Journalist, Finanzwissenschaftler; 1948-1955 Staatspräsident

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